Trauma, Trauma-Coping und Posttraumatische Belastungsstörung:
Theorie und Therapeutische Ansätze [Teil 1 von 3]

Tonbandabschrift des Vortrags auf dem Further Fortbildungstag "Schwere Traumatisierungen — wie bewältigen?" vom 7. Oktober 1998

 ➤ Website des Veranstalters: Fachklinik Furth im Wald


 ➤ Mitschrift des Vortrages als pdf-Dokument (Teil 1-3)
 ➤ Fortsetzung des Vortrags (Teil 2)
 ➤ zum dritten und letzten Teil des Vortrags
 ➤ zurück zur Archiv-Seite


Modethema "Trauma"

Das Thema "Traumatisierung" ist derzeit ein Modethema. Es bewegt und beschäftigt alle, und wenn ich zurück denke, dann sehe ich, daß es immer wieder solche Modethemen gab: Als ich studierte, war "die Gruppe" so ein Modethema. Alles war eine "Gruppe", "Die Gruppe" veränderte die Welt, "die Gruppe" sollte ein völlig neues Bewußtsein schaffen - und ich frage mich manchmal, ob dieses Modethema "Gruppe" damals wirklich etwas verändert hat: Ich denke schon. Ich glaube, daß die Auseinandersetzung mit Gruppenphänomenen dazu beigetragen hat, daß eigentlich überall in Gruppen gearbeitet wird; es ist eher die Ausnahme, daß irgendwo jemand noch so alleine vor sich hinarbeitet. Die Arbeit in Teams, in Gruppen, in Leitungsgruppen, in Arbeitseinheiten hat sich durchgesetzt, und insofern hat die Auseinandersetzung mit diesem Thema der Gruppe etwas verändert. Ich bin sicher, daß die Auseinandersetzung mit dem Thema "Trauma" ebenfalls etwas verändern wird.

Ich möchte in meinem Vortrag folgendermaßen vorgehen: Ich spreche zunächst ein bisschen über die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma, dann über die aktuelle Sichtweise der Traumaverarbeitung und dann über die Frage "Welche Behandlungsansätze werden zur Zeit versucht?" abschließend über allererste Ergebnisse.

Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma

Die Auseinandersetzung mit dem Trauma als Phänomen beginnt für viele - gerade für diejenigen, die aus der Psychoanalyse kommen - 1896 mit Sigmund Freuds Arbeit zur Ätiologie der Hysterie. Freud stand jedoch bereits in einer Tradition, er fing nicht neu an, entdeckte nicht, wie er meinte, die Quelle des Nils. Vielmehr kam er aus einer Tradition, die sich Mitte des letzten Jahrhunderts in Frankreich entwickelte. Damals setzte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern, die mit Psychologie nichts im Sinn hatten, mit der Traumatisierung von Kindern auseinander. Es handelte sich dabei um Gerichtsmediziner, die Kriminalstatistiken erstellten, große Zahlensammlungen aus den verschiedensten Departements, in denen sie zusammentrugen, wie oft eigentlich Kindstötungen mit sexuellem Hintergrund vorkamen. Sie kamen dabei zu sehr erschreckenden Zahlen. Das bedeutet, daß dieses Phänomen bekannt war. Ich bin auch sicher, daß der Marquis de Sade nicht nur Phantasien beschrieben hat. Interessanterweise ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema auch in der Bundesrepublik ursprünglich von einer Gerichtsmedizinerin ausgegangen - nämlich Frau Trube-Becker - als von der Psychologie, Psychiatrie oder Psychoanalyse.

Die Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Phänomen fand in Paris auch an der Salpetrière statt. Dort machte Sigmund Freud bekanntermaßen ein längeres Praktikum, um sich fortzubilden, um einen größeren Kenntnisstand im Bereich der Neurologie und Psychiatrie bei dem damals führenden Neurologen und Psychiater, nämlich bei Charcot, zu erlangen.

Charcot ist ja sehr wesentlich für die Entwicklung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Denkens gewesen, weil er im Grunde genommen der Entdecker der Psychogenese ist.

Die Trennung zwischen Körper und Psyche war bis etwa 1800 ja gar nicht gegeben. Da unterschied man nicht zwischen mentalen oder seelischen und somatischen Prozesse, sondern man sah den Menschen ganzheitlich. Erst durch die Aufklärung entwickelte sich eine andere Sichtweise. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden psychisch Kranke immerhin nicht mehr als "vom Teufel besessen", als "Abweichler" oder irgendwie "moralisch Dekadente" gesehen, sondern als Kranke. Hinzu kamen dann die ersten Befunde der Neurologie: Die Effekte von Hirnhautentzündungen, Verletzungen, Traumata oder Blutungen wurden zunehmend erkannt, und es gab den wichtigen Satz von Griesinger: "Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten". Damit war formuliert, daß körperliche Prozesse an vielen seelischen Symptombildungen beteiligt sind.

Charcot an der Salpetrière beschäftigte sich mit einer besonderen Gruppe von problematischen Patientinnen und Patienten. Man wußte, daß es zwei Arten von Anfallskranken gab: Es gab einmal die Anfallskranken, denen es nach jedem Anfall schlechter ging; diese wurden immer dementer, immer abgebauter, sie mußten schließlich einen Kopfschutz tragen, mußten gepflegt werden und starben schließlich. Und dann gab es eine andere Gruppe von Anfallskranken, die auch epileptische Anfälle bekamen - denen es hinterher aber besser oder zumindest nicht schlechter ging; diese waren nach dem Anfall wieder klar, für sie schien so ein Anfall etwas zu sein, wodurch sich etwas löste. Es waren überwiegend Frauen, die dieser Gruppe angehörten.

Eine der ersten Hypothesen über die Entstehung dieser Anfälle war, daß es sich dabei um Krampfanfälle des "Hyster", des Uterus, handeln könne; denn es waren ja fast nur Frauen. Also sprach man von Hystero-Epilepsie. Diese Hypothese hat sich allerdings nicht durchgesetzt. Charcot stellte nun fest, daß es möglich war, die beobachteten Symptome durch Hypnose hervorzurufen und durch Hypnose auch günstig zu beeinflussen, also verschwinden zu lassen. Damit war deutlich geworden und bewiesen, daß es seelische Symptome gibt, die durch seelische Ursachen herbeigeführt werden und mit seelischen Mitteln behandelt werden können. Diese Auffassung bildete ein Gegengewicht zu Griesingers Sicht- und Denkweise. Beide Positionen stehen sich seit 1850 / 1860 gegenüber und nähern sich jetzt in der Gegenwart allmählich wieder an - die Position der Somatogenese und die der Psychogenese.

Charcot selbst galt neben einem anderen wichtigen Forscher, nämlich Oppenheim, als jemand, der die Hysterie als posttraumatische Belastungsstörung sah. Einer der wichtigsten Schüler von Charcot, Gilles de la Tourette, ein Neurologe, der das Tourette-Syndrom mit erforscht hat, sagte, Charcot sei ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß hysterische Symptome sehr oft durch traumatische Erfahrungen hervorgerufen worden seien. Zwei weitere wichtige Charcot-Schüler haben diesen Gedanken aufgegriffen und fortgesetzt: Einer war Janet, der die psychologische Abteilung an der Salpetrière leitete und im Grunde genommen all das schon beschrieben hat, was heute unter den Stichworten "Dissoziative Störungen, Dissoziation, Aufspaltung des Bewußtseins, posttraumatische Belastungsstörung" diskutiert wird. Janet hat immer die Position vertreten, schwere seelische Störungen wie diejenigen, um die es in meinem Vortrag geht, seien posttraumatische Zustände und hätten oft etwas zu tun mit Kindesmißhandlung, Kindesmißbrauch oder anderen schweren Traumata. Er lief mit dieser Auffassung allerdings ins Leere. Erst vor 10/15 Jahren wurde Janet von der Gruppe um Van der Hart, Van der Kolk und Judith Herman wiederentdeckt.

Jemand anderer aber hospitierte auch in der Salpetrière, nämlich Sigmund Freud, der im Anschluß an seinen Pariser Aufenthalt in Wien mit Breuer zusammenarbeitete. Breuer hatte einige Patientinnen, die er nicht gut behandeln konnte und mit denen er nicht richtig zurecht kam. Breuer und Freud haben zunächst versucht, die Charcot'sche Hypnose bei schwer zu behandelnden psychogenen Störungen anzuwenden. Dabei machten sie nun eine ganz interessante Wandlung durch. Bissige Zungen behaupten, die Psychoanalyse sei weder von Sigmund Freud noch von Breuer entwickelt worden, sondern von Anna O., einer 20jährigen Patientin mit all den Symptomen, die man heute bei Borderline Persönlichkeitsstörungen oder auch bei Multipler Persönlichkeitsstörung findet. Abends sprach Anna O., z.B. nur englisch, manchmal zerriß sie die Bettwäsche, warf mit Sachen um sich, dann wieder war sie ein liebes kleines Mädchen und setzte sich Breuer auf den Schoß, was diesen in Eheschwierigkeiten brachte.

Mit Anna O. kamen die beiden mit der Hypnose nicht so richtig weiter. Lorenzer hat das sehr differenziert beschrieben, wie die Anfänge der Psychoanalyse damals abgelaufen sind. Irgendwann kam Anna O. dann auf eine Idee, übertragen gesprochen: "Lieber Herr Breuer, am besten bekommt es mir, wenn sie vorbeikommen, sich hinsetzen, mir einfach zuhören, möglichst wenig sagen, und ich kann mir mal alles von der Seele reden." Sie nannte das "chimney sweeping", also den Schornstein freikehren, und sprach von "talking cure" - abends sprach sie ja nur englisch. Diese "talking cure" bekam ihr tatsächlich, und Breuer und Freud kamen auf die Idee, daß Hypnose mit Reden eventuell wirksamer ist als Hypnose ohne Reden.

Freud entwickelte dann in einem Zwischenschritt ein Verfahren, bei dem er seine Patienten in Hypnose versetzte und sie aufforderte, dabei alles auszusprechen, über alles zu reden, was ihnen zu dem Symptom in den Sinn kam. Heute würde man das vielleicht Focussing nennen oder Traumaexposition. Und was er dabei zu hören bekam, versetzte ihn in Erstaunen bzw. auch wiederum nicht zu sehr, weil er bei Charcot und auch bei Janet ja schon ähnliches gehört hatte: Nämlich daß am Grunde jeder hysterischen Symptombildung eine Erfahrung vorzeitiger sexueller Erregung in Kindheit und Jugend liegt! Hier taucht zum ersten Mal die Verführungstheorie auf. 18 Fälle publizierte Freud 1896, die Reaktion darauf ist bekannt: Krafft-Ebing sprach von einem wissenschaftlichen Märchen, Freuds Vortrag wurde weder zitiert noch diskutiert; er mußte feststellen, daß er keine Überweisungen mehr bekam, daß er ausgegrenzt wurde und daß man mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte.

Ein Jahr später hat Freud dann das formuliert, was heute oft als Widerrufsbrief bezeichnet wird: er habe sich wohl doch geirrt, es gäbe auch viel Phantasien. Danach durchzieht sein Werk ein Pendeln: Es gibt immer wieder Textpassagen, die man als Beleg dafür zitieren könnte, daß Freud immer an das Trauma geglaubt hat; es gibt aber immer wieder auch Textpassagen, mit denen man belegen könnte, Freud habe die Verführungstheorie damals begraben, die Psychoanalyse entwickelt und sei der Auffassung gewesen, nicht das Trauma sei wichtig, sondern die ubiquitären Phantasien, die der menschlichen Entwicklung zu Grunde lägen: die Kindheitsentwicklung und das, was in der Seelenschaft zum Trauma gemacht werde.

In der Zeit nach ihm, bei seinen Schülerinnen und Schülern, war das Trauma ein Tabu. Es galt ganz klar, daß das Trauma kein relevantes Ereignis sei, Traumatisierungen spielten keine Rolle. Mit dieser Position stand die Psychoanalyse nun nicht sonderlich alleine da, in Frankreich z.B. wurde die Diskussion um den sexuellen Kindesmißbrauch um die Jahrhundertwende eigentlich abgeschlossen. Es gab viele Gegenstimmen gegen diejenigen, die sagten, daß Kindesmißbrauch weit verbreitet sei und daß man gerichtlich einschreiten müsse. Es gab viele, die meinten, das seien alles Phantastereien; insbesondere als dann auch geachtete Männer angezeigt wurden und nicht nur Leute aus Randgruppen, hieß es schnell, das seien alles Spinnereien. Die Frauen, die solche "Phantasien" von sich gaben, kamen in die Psychiatrie als seelisch Verwirrte, und das Thema war damit begraben. Letztlich kann man sagen: Zwischen 1895 und etwa 1980 spielte dieses Thema in der Wissenschaft keine Rolle. Sexueller Mißbrauch und Kindesmißbrauch waren kein Thema, Kindesmißhandlung sowieso nicht, die Grenzen zwischen dem Erziehungs- und Züchtigungsrecht und Mißhandlungen sind ja auch heute noch sehr fließend. Es ist ja auch gar nicht einfach, in diesem Bereich präzise Kategorien zu definieren.

Eine zweite Denktradition ist wesentlich, die sehr vielen, die im Psychotherapiebereich arbeiten, überhaupt nicht gegenwärtig ist. Es geht dabei um Unfälle, Haftpflicht und Krieg. Als die erste Eisenbahn in Großbritannien fuhr, gab es am ersten Tag auch schon den ersten Eisenbahnunfall. Mit der Industrialisierung häuften sich die Unfälle in den Bereichen des Verkehrswesens und der Fabriken, und es entstand so allmählich der Haftpflichtgedanke. Es entstand der Gedanke: wenn so etwas durch eine Eisenbahn verursacht worden ist, dann muß die Eisenbahngesellschaft auch dafür bezahlen. Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die nach so einem Eisenbahnunglück oder auch nach einem anderen Verkehrsunfall oder wenn sie sich in der Fabrik mit irgendwelchen Maschinen verletzt hatten dann sagten, dieser Vorfall habe ihnen geschadet: Sie könnten nicht mehr schlafen, müßten immer an den Vorfall denken, sie fingen an zu zittern, könnten sich nicht mehr konzentrieren und seien durcheinander. Sie sagten, das liege an dem Unfall.

Die ersten Hypothesen bezüglich dieser Ereignisse waren somatische Hypothesen. Erichsen formulierte die Überlegung, daß die Erschütterungen z.B. bei einem Eisenbahnunfall zu Irritationen in der Wirbelsäule und im Rückenmark führten, und diese "Eisenbahnwirbelsäule" sei dafür verantwortlich, daß es später zu Zittern, Konzentrationsstörungen und schnellem Herzschlag komme. Der ganze Prozeß habe also eine organische Genese. Diese Hypothese hat bis heute ihre Wertigkeit. Bei sehr vielen Halswirbelsäulenschleudertraumata ist die Irritation der Wirbelsäule etwas, was immer wieder mit diskutiert wird. Es ist also nicht so, daß der Aspekt der Somatogenese heute vom Tisch sei.

Es gab aber auch eine Gegengruppe, die sagten, das ist nicht etwas Organisches, was da abläuft, sondern das Wesentliche sei der Schreck und der Schock, und es sei auch nicht eine Sache der Wirbelsäule, sondern überwiegend des Gehirns, und deshalb sei es besser, vom "railway brain" zu sprechen, vom "Eisenbahngehirn". Für diese Tradition war Oppenheim wichtig, der als erster formuliert hatte, daß es eine traumatische Neurose oder eine traumatogene Neurose gebe. Er sagte 1889: "Aus den körperlichen Veränderungen heraus entwickeln sich seelische Symptome"; diese seien zwar seelischer Natur, aber er sah eine körperliche Verursachung im Hintergrund. Gar nicht so unmodern, wie ich später noch ausführen werde.

Es gab natürlich sehr frühzeitig noch eine dritte Gruppe, die meinte, das seien alles verkommene Subjekte und Simulanten, Versicherungsbetrüger und Spinner, die anders nicht zu Geld kommen würden und die sich nach einem Eisenbahnunfall oder weil ihnen irgendwie in der Fabrik eine Maschine eine Verletzung zugefügt habe, sagen: "Da will ich doch mal die Versicherungsgesellschaften ausschlachten oder ich will eine Rente haben oder ich will einfach nicht mehr arbeiten müssen".

Diese drei Hypothesen: Somatogenese, Psychogenese, Simulation und Versicherungsbetrug durchziehen die gesamte Diskussion bis in die Gegenwart und werden sich wahrscheinlich erst auflösen lassen, wenn man tatsächlich mit den Gehirnuntersuchungen und mit den Untersuchungen der posttraumatischen Belastungsstörungen, die gegenwärtig im Gange sind, weitergekommen ist. 1871 wurden in Deutschland die ersten Gesetze zur Haftpflicht erlassen, es gab Begutachtungen und Gutachterstreits.

Schließlich führte ein bestimmtes Ereignis noch zu einer Akzentuierung dieser Abläufe, ein Ereignis, das zu einer, man möchte fast sagen: geschichtlich fast einmaligen, Gruppe von Symptomen führte, nämlich der erste Weltkrieg. Im ersten Weltkrieg, ziemlich genau ab 1916, entstand plötzlich eine Symptomatik, die vorher und nachher so in Kriegszeiten nur sehr, sehr selten beobachtet worden ist. Das waren die Kriegszitterer. Das waren Soldaten, die plötzlich ein unstillbares Zittern bekamen, das nicht abzustellen war. Wurden sie aus der Frontlinie herausgenommen, beruhigten sie sich allmählich wieder. Sie wurden im Lazarett behandelt, und sobald sie wieder an die Front sollten, kam das Zittern wieder. Selbstverständlich war wiederum die erste Hypothese, das sei somatogen, das sei körperlich bedingt, das sei der Granatenschock; durch die Granatenexplosionen kommt es in den Schützengräben zu heftigen Erschütterungen, und diese Druckwellen sollten im Wirbelsäulenbereich Irritationen auslösen, die wiederum verantwortlich seien für dieses Kriegszittern.

Selbstverständlich bildeten eine zweite große Gruppe diejenigen, die sagten, das seien feige Gesellen und Vaterlandsverräter, die sich nur drücken wollten; die wollten nicht kämpfen, sondern sich nur der Situation entziehen. Es entwickelte sich eine militärpsychiatrische Tradition, die darin bestand, daß man sagte: die psychiatrische Behandlung eines Soldaten muß belastender sein als der Fronteinsatz. Das ist durchaus auch erfolgreich in allen Nationen durchgeführt worden, da nahmen sich Amerikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche und Österreicher nicht viel. Mit Kaltwasserbehandlungen, mit Elektroschocks und Aversionstherapie wurde versucht, die Soldaten dazu zu motivieren, wieder in den Einsatz zurückzugehen, durchaus mit Erfolg. Die Soldaten flüchteten im Grunde genommen irgendwann einmal aus dem Lazarett, bekamen aber sehr schnell wieder dieses Kriegszittern und waren dann doch nicht mehr einsatzfähig. Heute weiß man ziemlich sicher, daß eine bestimmte Art der Kriegsführung dieses Symptom hervorgerufen hat, eine Kriegsführung, die vorher und nachher nur sehr selten war, nämlich der Schützengrabenkrieg. Die Soldaten waren völlig hilflos in ihren Schützengräben eingegraben, und es war eine absolut statistische Willkür, ob sie überlebten oder nicht. Es hat in Frankreich während des ersten Weltkrieges auf den Schlachtfeldern Tage gegeben, da gab es fünfzig-, sechzig-, siebzigtausend Tote an einem Tag in allen kriegführenden Nationen. Man erforscht zur Zeit, welche Effekte diese Massentraumatisierungen möglicherweise auf die Geschichte der Nachkriegszeit, auf die Zeit 1920/1930 und die Katastrophe des 2. Weltkrieges hatten.

Ja, es ist eine potentiell lebensgefährliche Situation. Es gab einige wenige Personen in Großbritannien und den USA, die versuchten, bei diesen Soldaten, die aus dem 1. Weltkrieg wiederkamen, eine "talking-cure" zu machen, eine Redekur nach Sigmund Freud. Kardinger war ein Jahr bei Freud gewesen und hat selbst in seiner Autobiographie berichtet, daß es ihm als Kind nicht gut gegangen ist, daß er viel geschlagen wurde, daß er verschiedene Traumata erlebt hat. Er konnte sich in posttraumatische Zustände einfühlen und versuchte eine Redekur mit den Soldaten, sagte aber ganz offen, daß sie ihnen nicht geholfen habe.Was die Soldaten trotzdem gut fanden, war, daß ihnen überhaupt jemand geglaubt hat und ihnen zugehört hat und sie nicht gleich als Simulanten oder Versicherungsbetrüger abgestempelt hat. Nach dem 1. Weltkrieg gab es in allen Nationen eine ganze Reihe von Soldaten, die Versicherungsansprüche stellten; das wurde zum volkswirtschaftlichen Problem. Mitten in der Weltwirtschaftskrise hatte man kein Geld auch noch dafür übrig, und es gab sehr bald Gesetze, die besagten, daß es für diese Probleme nichts gebe. In Deutschland gab es einen Beschluß des Reichsversicherungsamtes, der wirklich perfide ist, und der besagte: Sofern jemand von seinem Unfall etwas hat, ist es zwangsläufig so, daß das der Grund für seine persistierenden Symptome ist. Das bedeutet: sobald jemand eine Rente beantragt, hat er einen sekundären Krankheitsgewinn, der die Ursache stabilisiert und verstärkt, und das spricht dagegen, daß er bezugsberechtigt ist. Das ist ein hervorragender, geradezu klassischer Double bind, aus dem es ja kein Entrinnen gibt: In dem Moment, in dem Menschen mit solchen Symptomen einen Rentenantrag stellen, sind sie Rentenneurotiker und haben deshalb keinen Rentenanspruch.

Im zweiten Weltkrieg versuchten die Amerikaner und Briten einen anderen Umgang mit ihren Soldaten als im ersten. Sie hatten aus der posttraumatischen Belastungsstörung gelernt, machten Militärpsychiatrie und, wie einige von Ihnen vielleicht wissen, auch Gruppentherapie. Therapeutische Gemeinschaften entstanden, man versuchte eine bestimmte Gruppenkohäsion herzustellen, weil man festgestellt hatte, daß das beste Mittel gegen posttraumatische Belastungszustände eine gute Gruppenkohäsion ist. Das ist das, was am ehesten verhindert, daß Soldaten schwere PTSD, also posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln, und das hatte man auch erforscht.

Nach dem zweiten Weltkrieg war insbesondere die Bundesrepublik Deutschland mit einer geschichtlichen Tatsache konfrontiert, die nicht aufarbeitbar ist, und die die Geschichte Deutschlands verändert hat und weiterhin verändern wird: die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Auf Druck der Alliierten verabschiedete der Bundestag 1956 das Entschädigungsgesetz, das beinhaltete, daß jemand, der durch nationalsozialistische Verfolgung und Konzentrationslager Gesundheitsschäden davongetragen hat, einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hat, auf eine EU-Rente. Der Gesetzestext war so formuliert, daß, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, daß es da Zusammenhänge gibt, daß dann eine solche Rente gewährt werden muß. Dies mußte begutachtet werden, selbstverständlich viel über die Ordnungsämter, und traf auf die wissenschaftliche Lehrmeinung in der Psychiatrie - nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, ja sogar in Israel -, daß akute Belastungsreaktionen zwar zu posttraumatischen Zuständen führen können, daß diese aber nur ein ¼ bis ½ Jahr andauern und sich dann wieder geben. Hat jemand mehr als ½ Jahr nach einer Traumatisierung Störungen, dann müsse er vorher schon konstitutionell belastet gewesen sein, neurotisch beispielsweise; und wenn die Symptome mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum ursprünglichen Ereignis auftauchen, dazwischen also 5 oder 10 Jahre liegen, dann konnten sie mit dem eigentlichen Trauma nichts mehr zu tun haben, sondern seien auf andere Faktoren zurückzuführen. Ein Wiener Psychiater formulierte: "Die Belastbarkeit der menschlichen Seele liegt im Unendlichen", ein gesunder Mensch verkraftet also alles.

Nun darf man nicht vergessen, daß bei einem umschriebenen Trauma - nehmen wir die Entführung der "Landshut" nach Mogadischu - ziemlich uniform folgendes zu beobachten ist: Etwa ¼ der Leute hat keine über eine Woche hinausgehenden Symptome und Störungen; etwa die Hälfte hat Störungen, die etwa ein halbes Jahr andauern, also eine akute posttraumatische Belastungsstörung; etwa ¼ behält schwere chronische posttraumatische Belastungsstörungen. Das bedeutet: Ein und dasselbe Ereignis hat eine gewisse Bandbreite an Folgen. Insofern gibt es für die alte Hypothese, entscheidend sei die innerseelische Verarbeitung und nicht das Trauma, durchaus auch Argumente. Es bedurfte dann aber der Arbeiten von Venzlaff - Ulrich Venzlaff ist mein psychiatrischer Lehrer - und anderer, die besagten, daß es auch Extremtraumatisierungen gibt. Unter denen bricht fast jeder zusammen.

Diese Gruppe bekam Unterstützung aus einer ganz anderen Ecke: der amerikanische Militärpsychiater Lifton arbeitete in Japan und Korea mit Kriegsgefangenen, mit Leuten, die in japanische Kriegsgefangenschaft geraten waren oder die bei den Chinesen eine Gehirnwäsche erlebt hatten. Dieser Psychiater interessierte sich 1955 für die Frage: "Wie hat sich eigentlich der Abwurf der Atombomben ausgewirkt?". Er stellte bei den Überlebenden von Hiroschima und Nagasaki fest, daß diese ein psychopathologisches Syndrom hatten, das demjenigen der Überlebenden von Konzentrationslagern sehr ähnlich war.

Als diese beiden Gruppierungen dann Ende der 50er Jahre zusammenkamen und sich austauschten, wurde klar, daß es Extremtraumatisierungen gibt, unter denen fast jeder Mensch schwere seelische Symptome entwickelt, denen also die wenigsten gewachsen sind. Damit war im Grunde genommen der erste Schritt getan, um das Trauma als solches zu etablieren.

Krystal hat einmal gesagt, daß wir uns mit Extremtraumatisierungen beschäftigen, daß aber eigentlich die meiste alltägliche Gewalt innerhalb der Familie geschieht. Diese Äußerung zeigte wiederum zunächst keine Wirkung. Es bedurfte eines erneuten Ereignisses, um das auszulösen, was jetzt aktuell ist, nämlich daß überall über Trauma und posttraumatische Störung diskutiert und geforscht wird. Dieses Ereignis war der Vietnam-Krieg.

Nach dem Vietnam-Krieg hatten bis zu einer Million Veteranen in den USA mit posttraumatischen Störungen zu tun, und die erste Argumentation war wiederum: "Die waren vorher alle schon irgendwie gestört; das sind verkappte Pazifisten oder Hippies oder Leute, die Drogen genommen haben, das hat mit dem Krieg nichts zu tun." Die Veteranen ließen sich das aber nicht mehr bieten, insbesondere die Angehörigengruppen wehrten sich und hielten dagegen: "Nach dem ersten Jahr ist unser Sohn zurückgekommen, mit schönen Auszeichnungen und Artikeln im Kreisblatt, er stand im Mittelpunkt - und nach zwei Jahren war er ein menschliches Wrack, hat um sich geschossen, hat seine Frau verprügelt und seine Kinder, er konnte nicht mehr arbeiten, hat getrunken und war völlig neben der Spur. Der war im ersten Jahr gesund, und daß er sich nach dem zweiten Jahr so entwickelte, das zeigt, daß er schon vorher irgendwie gestört gewesen ist? Das geht so nicht!" Damit begann im Grunde genommen die Erforschung der posttraumatischen Belastungsstörung auf breiterer Basis.

Ebenfalls in den 70er/80er Jahren gab es eine zweite Bewegung, die Frauenhäuser und die feministische Forschung, die die Diskussion um strukturelle Gewalt gegen Frauen in Gang brachten. Deren Annahme lautete, daß Kindesmißbrauch, Vergewaltigung und Gewalt in der Familie Schäden hervorrufen. Begriffe wie Battered-Child-Syndrom oder Broken-Home-Situation entstanden. Die an dieser Diskussion beteiligten Frauen trafen sich auf ersten Konferenzen, es wurde die posttraumatische Belastungsstörung formuliert. 1978 erschien ein sehr einflußreiches Buch von Charles Figley, danach war der Begriff der Traumatisierung klar formuliert, auch in seinen psychodynamischen Verarbeitungen klar, und es wurde deutlich, daß die Verarbeitung von Traumata relativ uniform abläuft.

Anfang der 90er Jahre erschien ein dickes "Handbuch der posttraumatischen Syndrome", in dem verschiedene Syndrome zusammengetragen wurden: Zustand nach Konzentrationslager, Zustand nach Kriegsgefangenschaft bei den Japanern, Zustand nach Kriegsgefangenschaft bei den Deutschen, Zustand nach Erdbeben, Zustand nach Verschüttung, Zustand nach Geiselhaft, Zustand nach Flugzeugabsturz usw. usf. In annähernd 100 Kapiteln wurden die verschiedensten Traumatisierungen zusammengestellt, und dabei wurde deutlich, daß es ein bestimmtes Schema der Traumaverarbeitung gibt, das fast biologisch abläuft.


 ➤ Fortsetzung des Vortrags (Teil 2)
 ➤ zum dritten und letzten Teil des Vortrags
 ➤ zurück zur Archiv-Seite